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Jahresthema 2021
SCHWEBEN (D) – Life in Limbo
SCHWEBEN (D) – Life in Limbo
In der Schwebe
„Das Streben ist die aufgeschobene Erkenntnis, die aber bereits sichtbar wird in der Ungeduld des Schwebezustands, in dem sie sich befindet.“
Michel Foucault
In der Schwebe zu sein bedeutet, den Atem anzuhalten. Und so aufmerksam wie möglich anzuschauen, was sich uns in der Gegenwart der Dinge offenbart.
Die Prüfung besteht in diesem der Leere abgetrotzten Gleichgewicht, das jederzeit zerstört werden kann. Der Seiltänzer riskiert den Sturz, vor allem wenn er innehält und fast reglos das Stehenbleiben probt. Er unterdrückt bewusst den Elan, der ihm die nötige Stabilität verleihen würde. Als Seiltänzer will er das Wunder der aufs Seil gestützten Schwebe auskosten. Fast so, als würde er warten – aber das ist es nicht. Die Schwebe ist kein Stillstand der Zeit vor einem Ereignis, sie ist das Ereignis selbst. Sie ist der Beginn jener inneren Zeit, da die Entscheidung in Wirklichkeit schon gefallen ist, es nur noch niemand weiß.
Das Risiko der Schwebe einzugehen, verlangt folglich eine gewisse Akrobatik. Bei einer Trapeznummer bewundern wir die Kraft und Biegsamkeit derer, die ihre Arme über der Leere aufspannen, ihre Art zu springen als kleine Anschauung vom Fliegen.
…
Das „In-der-Schwebe-Sein“ erinnert an den Raum des Liebesbriefs, an jenen inneren Rückzugsort, der zwangsläufig ein geistiger ist, was immer man auch mit diesem Wort verbindet. Wie kann man das Risiko eingehen, diesen Raum gelassen und gewaltfrei zu beschützen? Indem man dort verweilt, wo sich das Denken und damit das Gefühl regt. Nichts zerstören, nur beobachten und befrieden. Dem Gefühl zu seiner Entfaltung verhelfen, sich seiner Schlacken entledigen. Dann entlastet sich die Welt.
Anne Dufourmantelle (1964 – 2017) war eine französische Psychoanalytikerin, Philosophin und Autorin